Position: Öfter und direkter

Valerie Wilms zu einem neuen Wahlrecht für Schleswig-Holstein Das Wahlrecht in Schleswig-Holstein ist nicht verfassungskonform. Die Diskussion geht jetzt um die Zusammensetzung der zukünftigen Landtage. Valerie Wilms setzt sich für mehr direkte Demokratie ein. Wählerinnen und Wähler müssen öfter und vor allem direkter Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidungen nehmen können. Zunächst müssten die Wahlkreise reduziert werden, um die Zahl möglicher Überhangmandate zu begrenzen. Gleichzeitig sollten aber auch mehr Direktkandidaten pro Wahlkreis gewählt werden können.

27.09.10 –

Valerie Wilms zu einem neuen Wahlrecht für Schleswig-Holstein

Wahrscheinlich sind Politiker inzwischen diejenigen, die das Wort „Politikverdrossenheit“ am häufigsten in den Mund nehmen. Fast gehört es zum guten Ton eines Politikers, die eigenen Kolleginnen und Kollegen zu kritisieren und vor dem großen Verdruss zu warnen. Die Grundthese, der sich eine breite Mehrheit anschließen dürfte, lautet: Mit der Politik (des Gegners selbstverständlich) werden keine Probleme gelöst. Nur der eigene Vorteil stünde im Vordergrund und keinesfalls der von Bürgerinnen und Bürgern. Fast täglich wird danach irgendwo irgendwie die Axt an die Grundfesten der Demokratie gelegt. In keinem Bereich unserer Gesellschaft sind die Vorwürfe gegeneinander derartig fundamental und vielleicht ist mit dem Verdruss weniger der über Politik und Politiker an sich gemeint, als der stete Griff zu diesen Attacken.

Wir sollten verbal abrüsten und in aller Ruhe analysieren, wo wir mit unserer Demokratie stehen. Schleswig-Holstein wurde attestiert, dass sein Parlament nicht den Wählerwillen abbildet. Für eine parlamentarische Demokratie, in der nahezu alle Entscheidungen hierauf zurückgehen, ist das beschämend.

Die Vorstellungen für ein neues Wahlrecht gehen jetzt genau so weit auseinander wie der Wunsch nach dem Wahltag. Nüchtern können wir feststellen: So legitim der Ruf nach frühen Wahlen von Seiten der heutigen Opposition – bzw. der nach einem möglichst späten Termin von Seiten der derzeit Regierenden ist – so wenig ist er von aktuellen Umfragewerten zu trennen. Wer dieses Interesse leugnet macht sich lächerlich – und dabei hilft auch kein Verweis auf die Politikverdrossenheit.

Das macht es schwer, eine Entscheidung für ein Wahlrecht zu treffen, welches den Willen des Volkes möglichst eindeutig abbilden soll. Das Problem des jetzigen Wahlrechts sind zum einen die hohe Anzahl an Wahlkreisen und damit der Überhangmandate, die eine Abweichung zwischen gewonnenen Direktmandaten und der Höhe der Parteienstimmen ausgleichen sollen. Neben den Überhangmandaten wird jedoch auch mit den von Parteien gewählten Listenkandidaten die Besetzung eines Parlaments ein Stück weit dem direkten Einfluss von Wählerinnen und Wählern entzogen. Während viele gewonnene Direktmandate dazu führten, dass der letzte Landtag von 69 auf 95 aufgebläht wurde und schließlich nicht mehr den Verhältnissen an Wählerstimmen entsprach, werden Listen von Parteimitgliedern besetzt und der Wähler hat die gesetzten Personen mit seiner Parteienstimme zu akzeptieren.

Hinzu kommen hohe Hürden für Volksbegehren. In der Endkonsequenz bleibt für Wähler ein turnusgemäßer Urnengang, bei dem allgemein mit einer Tendenz über die Besetzung eines Parlaments entschieden werden kann. Ein Wähler kann hoffen, dass die Personen, auf deren Auswahl er zum größten Teil keinen Einfluss hatte, etwa das umsetzen, was seinen Vorstellungen entsprach.

Hiermit wird klar: Der Einfluss der Wählerinnen und Wähler auf viele Entscheidungen ist sehr indirekt und manche sehen seinen Einfluss gar entzogen. In einer Zeit mit immer stärkerer Individualisierung, mit immer neuen Milieus, permanenten Informationsflüssen und stetiger Vernetzung verschiedenster Interessen hinkt die Besetzung der Parlamente und die Einbeziehung der Bevölkerung in gesamtgesellschaftliche Entscheidungen der gelebten Realität gewaltig hinterher.

Heute gibt es kaum noch klassische Milieus: Erdrutschsiege und -verluste sind zu jeder Wahl fast normal, Konservative demonstrieren gegen überteuerte Bahnhöfe oder sogar gegen Atomkraft und sind politisch engagiert wie nie in ihrem Leben zuvor. Etwas hat sich in diesem Land verändert – und am wenigsten kann das mit Politikverdrossenheit ausgedrückt werden. Eher zeigt sich ein großer Wille mit zu entscheiden – und eine große Enttäuschung, wenn dieser Wille missachtet wird.

Ein neues Wahlrecht für Schleswig-Holstein muss diese Entwicklungen aufnehmen. Wählerinnen und Wähler müssen öfter und vor allem direkter Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidungen nehmen können. Zunächst müssen wir die Wahlkreise reduzieren, um die Zahl möglicher Überhangmandate zu begrenzen. Gleichzeitig sollten aber mehr Direktkandidaten pro Wahlkreis gewählt werden können, die vor Ort bekannt und in der Wählerschaft verankert sind. Zukünftig werden so weniger Parlamentarier über Listenplätze auf dem Ticket einer Partei ins Parlament kommen.

Die Politik sollte den Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach Partizipation an den gesellschaftlichen Prozessen aufnehmen. Dazu bietet sich das Instrument der Volksabstimmung an. Trauen wir uns als gewählte Politikerinnen und Politiker, auch schwierige politische Entscheidungen in die Hände des Souveräns, der Wählerinnen und Wählern, zurück zu geben. Wir Politikerinnen und Politiker sind nicht allwissend und Bürgerinnen und Bürger dieses Landes haben ein gutes Gespür dafür, wie sie in dieser Gesellschaft zusammen leben möchten.  Darum brauchen wir endlich auch in Schleswig-Holstein deutlich niedrigere Hürden für Volksbegehren, Volksentscheide und Volksabstimmungen. Die Politik müsste dann sehr viel intensiver, häufiger und zu vielen einzelnen Aspekten beim Wahlvolk werben.

Ob damit alles besser wird? Mitnichten – wie der Hamburger Volksentscheid zum längeren gemeinsamen Lernen gezeigt hat. Auch zukünftig werden wir Entscheidungen akzeptieren müssen, die nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen. Politikerinnen und Politiker werden sich viel häufiger der Gefahr einer Niederlage aussetzen und Bürgerinnen und Bürger werden öfter unbequeme Entscheidungen selber treffen müssen. Dafür wird es viel intensivere und leidenschaftlichere Debatten geben – und wir werden erleben, wie Politik und Bürger gemeinsam die Zukunft gestalten.

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