
20.05.11 –
Interview in Elmshorner Nachrichten
Deutschland diskutiert über neues Wachstum und humanen Fortschritt - Geld allein zählt dabei nicht.
Welche Aufgabe hat aus Ihrer Sicht die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität"?
 Valerie Wilms (Die Grünen): Die  Situation in Japan zeigt uns sehr drastisch, dass wir nicht weitermachen  können, wie bisher. Wir müssen sehr fundamental über unsere Sicht auf  den Fortschritt nachdenken. Die Enquete- Kommission führt diese  Diskussion im Parlament und soll nach meiner Vorstellung einen  Meilenstein setzen, um Ressourcen zu schonen. Wir müssen den Begriff  "Lebensqualität" neu definieren und messbar machen - denn was nützt uns  wirtschaftliches Wachstum, wenn wir damit unsere Lebensgrundlagen  zerstören. Japans Wohlstand beruhte zum großen Teil auf billigem  Atomstrom, der nun die Basis zerstört. 
Wie bewerten Sie den heutigen Begriff "wirtschaftliches Wachstum"?
 Wilms:  Wirtschaftswachstum war lange gleichbedeutend mit wachsendem materiellen  Wohlstand - und zwar für sehr viele Menschen. Wir sind aber an einem  Punkt angekommen, an dem mehr Wachstum nicht mehr nur zu mehr Wohlstand  führt, sondern die Grundlage des Lebens - einen bewohnbaren Planeten -  bedroht. Wenn der Erfolg unseres Landes sich nur im Wirtschaftswachstum  ausdrücken soll, greift das deutlich zu kurz.
Was bedeutet für Sie neuer humaner Fortschritt?
 Wilms: Humaner Fortschritt ist  vielschichtig: Das geht von der reinen Existenzgrundlage bis hin zur  ethischen Verantwortung. Hierzu gehört auch die Frage, wie viele  Menschen ein höheres Bildungsniveau erreichen oder wie eine Gesellschaft  mit den Schwachen umgeht. Was die Existenzgrundlage anbetrifft, bin ich  in Deutschland für einen Lastenausgleich wie wir ihn schon einmal zur  Gründung der Bundesrepublik vorgenommen haben. In Deutschland hat sich  die soziale Ausgrenzung durch massive Ausbreitung des Niedriglohnsektors  in den letzten Jahren deutlich erhöht. Dem müssen wir mit einem  Mindestlohn begegnen, damit alle, die Arbeit haben, auch am  gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
Wie greift Ihre Partei das Thema inhaltlich auf?
 Wilms: In der Enquete-Kommission will ich die bisherige Fixierung auf  das Bruttoinlandsprodukt (BIP) debattieren. Es geht etwa um die Frage,  ob wir einen oder mehrere Indikatoren für den humanen Fortschritt  einführen sollten. Stellen Sie sich vor, es würden nicht mehr nur  Arbeitslosenzahlen oder BIP in der Tagesschau vermeldet, sondern auch,  ob wir nachhaltiger geworden sind. Ich fände es sehr wichtig, wenn damit  bestimmte Aspekte mehr ins Bewusstsein dringen würden - ob etwa die  Artenvielfalt zugenommen hat, wie der Flächenverbrauch aussieht und  vielleicht sogar, ob wir zufriedener geworden sind. 
Was  soll am Ende der Kommissionsdebatte stehen, eine inhaltlich abgestimmte  Mehrheitsentscheidung? Und: Sollen die Mitglieder eine Art  (Partei-)Programm vorstellen oder ein offenes Ergebnis mit politischen  Alternativen aufzeigen?
 Wilms: Ich erwarte eine möglichst breit getragene gemeinsame  Entscheidung der Kommission. Hier geht es nicht um unmittelbares  Regierungshandeln oder Oppositionsarbeit. Vielmehr werden langfristige  Ziele der Gesellschaft identifiziert. Die haben künftig nur eine Chance  auf Realisierung, wenn sie möglichst einstimmig von der Kommission  erarbeitet werden. Das wird für alle Fraktionen auch Abstriche vom  derzeitigen Handeln bedeuten. Aber mir wäre es das wert, wenn so ein  gesellschaftlicher Grundkonsens erreicht werden könnte.
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