"Die Ministerien scheren sich kaum um die Strategie"

Nachgefragt im Bundestag - Interview mit dem Magazin enorm

Der Nachhaltigkeitsbeirat des Bundestags hat damit begonnen, jedes neue Gesetz daraufhin zu prüfen, ob die Nachhaltigkeitsstrategie der Regierung berücksichtigt worden ist. Stoppen kann er Gesetze aber nicht. Ein Gespräch mit Beiratsmitglied Valerie Wilms.

Frage: Frau Wilms, ich bin heute mit dem Rad zum Bundestag gefahren, das Gerät, mit dem ich unser Gespräch aufzeichne, arbeitet nicht mit Batteriestrom. Ich habe extra für Sie das Netzkabel mitgebracht.

Wilms: Durchaus nachhaltig wäre übrigens auch der Gebrauch eines Akkus.

Frage: Fällt Ihnen kein schöneres Wort für „nachhaltig“ ein?

Wilms: (Kurze Pause). Ich bedaure, so unmittelbar nicht.

Frage: Was halten Sie von „zukunftstauglich“?

Wilms: Ja, aber, das trifft es nur teilweise. Nachhaltig bedeutet auch, dass es nicht zu Lasten der heutigen Generation gehen darf.

Frage: Den Nachhaltigkeitsbeirat gibt es jetzt in der dritten Wahlperiode. Bei sämtlichen nachhaltig zweifelhaften Gesetzgebungsverfahren der letzten Jahre habe ich nie etwas von ihm gehört. Etwa Abwrackprämie oder das Wachstumsbeschleunigungsgesetz mit dem Mehrwertsteuer-Privileg für die Hoteliers…

Wilms: Ich stimme Ihnen zu, dass die Abwrackprämie unter Nachhaltigkeitskriterien ein Sündenfall war und der Kommentierung bedurft hätte. Die Prämie stammt aber aus der letzten Wahlperiode. Und der Gesetzes-Check auf Nachhaltigkeit ist etwas komplett Neues. Damit legen wir gerade erst los.

Frage: Wie läuft diese Überprüfung auf Nachhaltigkeit ab?

Wilms: Wir vom Beirat sind recht früh in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden. Wir schauen uns die Gesetzentwürfe an, nachdem sie das Kabinett passiert haben, noch bevor die Länderkammer und die Ausschüsse entscheiden. Vor der Behandlung in den Ausschüssen überprüfen wir, ob die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung angewendet wurde. Wir geben unsere Stellungnahme an den federführenden Ausschuss ab, der sie dann weiter verarbeitet.

Frage: Wie läuft die Prüfung konkret ab?

Wilms: Im Beirat, der aus 22 Parlamentariern besteht, bilden wir Zweier-Gruppen. Jeweils ein Abgeordneter der Opposition und der Koalition knöpfen sich dann ein neues Gesetz vor und prüfen zunächst, ob das Gesetz Belange der Nachhaltigkeit berührt und dann, ob die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie eingeflossen ist oder nicht.

Frage: Sind Sie schon einmal aktiv geworden?

Wilms: Ja, wir haben Ende Mai getagt und zwei Stellungnahmen beschlossen. Wir haben moniert, dass beim Bafög-Änderungsgesetz die Nachhaltigkeitsprüfung nicht durchgeführt wurde. Das gleiche gilt für das Stipendienprogramm-Gesetz. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sämtliche Bundesministerien sich bislang um die Nachhaltigkeitsstrategie kaum scheren. Sie ignorieren sie einfach. Lediglich das Umweltministerium bemüht sich, die formalen Kriterien zumindest zu erfüllen. Und selbst da lässt die Aussagekraft sehr zu wünschen übrig.

Frage: Und wie nachhaltig sind die Gesetze selbst?

Wilms: Nur damit kein Missverständnis entsteht: Der Beirat nimmt keine detaillierte inhaltliche Bewertung der Gesetze vor. Das ist Sache des Ausschusses. Wir prüfen lediglich, ob die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesrepublik berücksichtigt wurde. Wir haben uns im Beirat auf ein eher formales Verfahren geeinigt, wir wollen unsere Stellungnahmen einstimmig abgeben. Wenn wir inhaltlich zu sehr in die Tiefe gingen, würden sich schnell die Lager, Opposition und Koalition, herausbilden. Das wäre für unsere Arbeit nicht gut.

Frage: Welche Konsequenzen hat es, wenn der Beirat einen Gesetzentwurf rügt?

Wilms: Der Beirat hat keine unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten.

Frage: Gar keine?!

Wilms: Nein, wir haben keine unmittelbaren parlamentarischen Befugnisse, wir können ja kein Gesetz direkt aufhalten. Unsere einzige Chance ist, als Gesamtgremium zu wirken. Wir brauchen den Konsens. Wenn es Streit im Beirat gäbe, würde unsere Stellungnahme ungelesen im Papierkorb landen. Wir sind erst ganz am Anfang unserer Arbeit. Im Grunde erproben wir derzeit das abgesprochene Verfahren.

Frage: Mit Verlaub, unter den 22 Mitgliedern Ihres Beirates sind eher Hinterbänkler vertreten, nimmt der Bundestag das Thema Nachhaltigkeit  ernst genug?

Wilms: Der Erfolg des Beirates hängt nicht davon ab, ob in der ersten Reihe Koryphäen sitzen. Wir wollen über Parteigrenzen hinweg für alle Generationen tätig sein.

Frage: Das Kabinett wird bis zur Sommerpause das Gesetz über den Haushalt 2011 vorlegen. Können Sie angesichts einer Neuverschuldung von 70 Milliarden Euro, die kommenden Generationen aufgebürdet wird, sich überhaupt zurückhalten und keine inhaltliche Bewertung abgeben?

Wilms: Persönlich werde ich wohl zu der Bewertung kommen, dass der Haushalt den Nachhaltigkeitskriterien Hohn spricht. Faktisch wird der Beirat aber nur sagen können, ob die Nachhaltigkeitsprüfung vorgenommen wurde oder nicht. Da stoßen wir an unsere Grenzen. Wissen Sie, Volker Hauff war kürzlich bei uns im Beirat zu Gast. Der SPD-Vordenker einer Ressourcen schonenden Wirtschaft hat uns mit folgenden Worten darauf vorbereitet, dass wir dicke Bretter bohren müssen: Wenn wir uns vorstellen, dass wir 24 Stunden brauchen, um Nachhaltigkeit zu erreichen, haben wir gerade erst eine halbe Stunde geschafft.

Interview: Markus Grabitz

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